Donnerstag, 2. Dezember 2004
Schuldig fühlen

Oder: Endlose Kette von Umständen

Alles fing damit an, dass mein ÖPNV-Praxistest positiv ausfiel und ich mich nun für eine Monatskarte entschied. Gut, dass dies ein paar Tage vor Monatsbeginn geschah, denn so hatte ich noch Zeit für die Überlegung, dass dieser Monat ja Dezember und somit am 23. im Prinzip zu Ende ist. Also doch wieder Wochenkarten. Dem folgte im Laufe des 1. d. M. die neue Rechnung: drei Tageskarten für diese Woche + 3 Wochenkarten (bis 23.) sind teurer, als eine ganze Monatskarte. So ging ich also frohen Mutes gestern nach der Arbeit zum Bahnhof mit dem Ziel, eine Monatskarte am frisch entdeckten EC-Karten-Fahrkartenautomaten zu kaufen. Denn der Schalter hat natürlich schon zu, wenn man als Berufstätige/-r nach Feierabend dort ankommt. Zu dumm nur, dass dieses Ding mir nun - im Gegensatz zum Vortag, als ich die Monatskarte für Hasi erwarb – ebenfalls den Fahrkartenverkauf verweigerte. Grrrrrrr. Das One-way-ticket, welches ich nun kaufen musste, macht den ganzen errechneten Preisvorteil wieder zunichte. Die U-Bahn kam wegen Signalstörung zu spät. Der Anschluss zur S-Bahn (20-Min.-Takt) war hin und auf dem Umsteigebahnhof weht ein sehr frisches Lüftchen.
Nun, der weitere Plan war, mir am nächsten Morgen die Monatskarte am S-Bahnhof zu kaufen. Nicht so verkehrt, denn zwischen Aussteigen aus dem Bus und der Abfahrt der S-Bahn liegen zehn Minuten. Genug Zeit. Wenn der Bus pünktlich kommt!

Kam er natürlich nicht. Er kam mit 5 min. Verspätung. [Reicht aber sicher noch für den Automaten am Bahnhof. Öhm – wenn ich das Ticket an der S-Bahn kaufe, fahr ich ja im Bus schwarz!! ... Aber beim Busfahrer wird es sicher keine Monatskarten geben.] Ausrede, alte Monatskarte von Hasi, Einzelticket von gestern Abend und Geld fürs neue Monatsticket parat steig ich in den fünf Minuten verspäteten Bus. Und komme auf die glorreiche Idee, den Busfahrer nach Zeitkarten zu fragen. Was er erwartungsgemäß verneint.

Ich nehme Platz, meine Ausrede fest im Griff, und betrachte so die Schilder über der Frontscheibe: Nicht essen, Nicht irgendwas und Nicht telefonieren - als der Busfahrer sein Handy zückt. U. a. erzählt er seinem Gesprächspartner, an welcher Station er sich gerade befindet. [Der wird doch jetzt nicht den Kontrolleur verständigt haben, dass hier jemand zum abkassieren sitzt?]
Zwei Stationen später, er setzt gerade zum Abfahren an, bleibt der Bus abrupt stehen, der Fahrer dreht sich zu mir um mit den Worten “Ich hab die Karte”. [Oh Mist, jetzt sammelt er noch mehr Verspätung ein wegen mir. Aber wir haben ja noch fünf Minuten Reserve.] Ein bisschen holperig geht er mit mir durch das Menü seiner Ticketmaschine, was uns ingesamt nochmal ca. eine bis anderthalb Minuten kostet. [Geht ja noch.] Von da an ging alles recht flott. Der Fahrer beeilte sich und wir kamen rechtzeitig am S-Bahnhof an. - Für mich und alle, die stadteinwärts wollten.

Dass die stadtauswärts-Bahn 6 min. früher fährt, hatte ich bis dahin noch gar nicht bedacht. Diese fuhr gerade ein, als unser Bus ankam. Doch es sind ein paar Meter dazwischen. Es gibt Busfahrer, die halten schon mal etwas weiter vorne, wenn sie spät dran sind. Nicht so leider unser unerfahrener Neuling heute.
Der junge Mann neben mir - schwer geh- und sprachbehindert mit Krücke, vielleicht von einem Schlaganfall? - versuchte, sich zu artikulieren, dass der Bussfahrer doch anhalten solle, damit man die Bahn noch bekommt. Doch, der Fahrer hat’s nich geschnallt. Ist auch schwierig, wenn jemand nicht mehr herausbringt als ein ängstliches, verzweifeltes Geräusch, dass am ehesten dem Muhen einer Kuh nahe kommt.

Der Bus stand. Eine junge Frau eilte los und mit Hilfe einer gerade ausgestiegenen Dame, die die Tür offen hielt, bekam sie die S-Bahn noch. Der junge Mann, schwer geh- und sprachbehindert mit Krücke eilte ebenfalls los. So schnell er konnte. Das eine Bein über die Fußspitze schleifend, den Arm und die Krücke weit schwenkend, nocheinmal ob seiner Hilflosigkeit verzweifelt muhend. Am liebsten hätte ich irgendetwas getan, um die S-Bahn aufzuhalten. Doch das Gelingen einer solchen Aktion erschein mir äußerst unwahrscheinlich. Und er bekam die Bahn natürlich nicht. Er tat mir so leid. Ich war den Tränen nah.

Auf meinem Bahnsteig gegenüber angekommen sah ich ihn noch einmal: Einsam auf der anderen Seite stehend. An diesem rauh bereiften Dezembermorgen. Die S-Bahn im 20-Minuten-Takt. Hörte nocheinmal dieses hilflose, über das Verpassen der Bahn verärgerte Muhen. Mehr konnte er nicht. Und er tut mir so unendlich leid. Eine halbe Minute früher hätte vielleicht schon gereicht.

Und ich erkenne meine Schuld. Hätte ich doch gestern Abend mal nur ein bisschen voraus gedacht! Hätte ich doch die 15 Minuten auf dem zugigen Umsteigebahnhof zum Ticketkauf genutzt! Oder mir daheim bei Ankunft eins vom Automaten geholt! Ich hätte heute früh keine Sorgen gehabt und der Verspätung des Busses nicht den letzten Kick gegeben.

Aber so ist es nun einmal. Wo so viele Menschen und Faktoren aufeinander treffen. Irgendwann verketten sich die Umstände so lange, dass etwas unschönes passiert.
Wenig später schaute ich noch einmal hinüber und konnte ihn nicht entdecken. Dann kam meine S-Bahn, ich stieg ein und fuhr los. Wie immer.
Nein, nicht wie immer. Denn mir war absolut nicht danach, mein Buch herauszuholen, welches ich in den letzten Tagen nur so verschlungen hatte, so dass mir fast schwindlig wurde. Nein, heute war mir absolut nicht nach lesen. Dieses Geräusch von ihm hängt mir noch lange im Ohr nach. Viiiiel lieber hätte ich etwas zum Schreiben gehabt. Um dieses Erlebnis gleich festzuhalten. Meine Gedanken, die sich bei der Reflexion des soeben Erlebten nur so überschlugen, kanalisieren zu können. Sie zu bremsen und zu bündeln. Sie zu ordnen.

Er tat mir wirklich sehr leid. Und auch jetzt beim Niedertippseln kämpfe ich mit hohem Wasserstand in den Augen. Aber mir fällt auch ein, jetzt mit etwas Abstand betrachtet: Vor der Endhaltestelle ist noch eine Ampel. Vielleicht hätten wir dort nur länger gestanden, wenn ich nicht ...

Ich weiß es nicht. Nicht mal, ob wir heute an der Ampel überhaupt gestanden haben. Ist auch egal. Nicht zu ändern. Und hätte-wäre-wenn-vielleicht ... ist Wurscht! Ist ist ist.


------------


Komisch wie sich die Dinge ändern. Eigentlich wollte ich meinem Blog heute zum Geburtstag gratulieren ... Aber - der is ja auch erst morgen. Is ja ein Schaltjahr.

Von jeamuc um 14:25h| ÖPNV | 0 Kommentare |comment